Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Juli 1991

Lebendige Sprache

Von Klaus Natorp

Auf Sprachkritik reagieren die meisten empfindlich. Manche möchten vor allem Sprachwissenschaftler und Linguisten am liebsten verbieten. Sie sagen, die Sprache sei etwas Lebendiges, sie wandle sich unablässig; man solle daher davon absehen, über das Eindringen von immer neuen Fremdwörtern in unsere Sprache zu jammern, die vielen Anglizismen im Deutschen zu beklagen oder sich darüber aufzuregen, daß bestimmte Floskeln, Bilder, Redensarten nach übermäßigem Gebrauch ausgeleiert, entwertet, abgegriffen sind. Sprache entziehe sich der Reglementierung, wird behauptet; man dürfe sie nicht in bestimmte Bahnen lenken wollen. Sie entwickle sich unabhängig von den Wünschen und Vorstellungen der ohnehin nicht großen Zahl sprachempfindlicher und sprachbewußter Zeitgenossen. Aber man wird vielleicht noch fragen dürfen – oder besser »hinterfragen«? Es wird ja alles verzeichnet in den modernen Wörterbüchern, was dem Volksmund entfleucht, selbst wenn es Unfug ist. Doch das ist vermutlich schon wieder eine Wertung, welche Anhänger der These von der lebendigen Sprache als unerlaubt bezeichnen würden. Begnügen wir uns also mit der Erwähnung »gewisser Phänomene«, die sich in der deutschen Sprache zur Zeit bemerkbar machen, und überlassen wir jedem selbst das Urteil darüber, ob diese »Phänomene« eine Bereicherung des Deutschen sind, ob sie die Sprache lebendiger machen oder ob sie nicht vielleicht dadurch eher ärmer wird.

Am auffälligsten ist der offenbar immer kleiner werdende Wortschatz. Die Wörterbücher werden immer umfangreicher, doch die Zahl der zum Beispiel in den Rundfunk- und Fernsehnachrichten oder von den Politikern verwendeten Wörter geht zurück. Es wird immer nur ein einziges Wort benutzt, obwohl auch zahlreiche andere Wörter zur Verfügung stünden. Nahezu alles wird zum Beispiel »ausgelöst«: Kritik, Unruhe, Feuer, Überschwemmungen, Lawinen, Erdbeben, Explosionen, Widerspruch, Reaktionen und so weiter. Daß auch etwas hervorgerufen, erregt, entzündet, entfacht, verursacht, bewirkt werden kann, ist fast vergessen. So verändert sich die Sprache. Da haben die Sprachwissenschaftler recht. Doch ob dieser Wandel ein Segen ist oder ein Unglück, darüber läßt sich streiten. Unbestreitbar ist, daß diejenigen Institutionen und Personen, die der Bevölkerung jeden Tag mit ihren schablonenhaft formulierten Sätzen in den Ohren liegen, Verantwortung dafür tragen, daß sich die Sprache so wie beschrieben wandelt. Denn nach diesen »Leitfiguren« richtet sich die Masse. Was etwa Politiker von sich geben und Fernsehen und Rundfunk dann Millionen von Haushalten vermitteln, wird dort aufgesogen, weiterverbreitet und weitergegeben. Wenn aus dem Lautsprecher stets nur »erneut« ertönt und die vielen anderen Möglichkeiten – wie wiederum, abermals, ein weiteres Mal, noch einmal, aufs neue – vernachlässigt werden, bleibt eben am Ende nur »erneut« übrig, und schließlich muß es sich das Adverb sogar noch gefallen lassen, als Adjektiv zu »erneuter« Verwendung mißbraucht zu werden.

Ein weiteres »Phänomen«: Viele kennen gar nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung von Fremdwörtern wie Euphorie, Kontrahent, Alternative oder rasant und nehmen daher an, es handle sich um Synonyme für Begeisterung, Gegner, Ersatz oder schnell. Wahrscheinlich wird es bald so kommen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn dieser Bedeutungswandel nicht davon zeugte, daß viele gedankenlos etwas nachsprechen, was andere ihnen vorreden. Und wieder sind »Massenmedien« und Politiker die Vorreiter einer solchen Entwicklung, mag man sie nun bedenklich oder unerheblich finden.

Den meisten ist es offenbar gleichgültig, was mit ihrer Sprache geschieht. Ein schmutziger, zerknitterter Geldschein, den man nicht einmal mehr mit Handschuhen anfassen will, wird schließlich bei der Bank gegen einen neuen umgetauscht. Doch eine Metapher kann noch so abgegriffen sein, sie wird weiterbenutzt bis in alle Ewigkeit. Grünes Licht wird wohl noch gegeben und Weichen werden noch gestellt werden, wenn es längst keine Eisenbahn mehr gibt. Die Klischees kommen wie auf Knopfdruck automatisch, also müssen sie auch benutzt werden, es ist üblich so, und kaum einer macht sich die Mühe, statt des Vorgestanzten eine originelle eigene Formulierung zu suchen. Lebendige Sprache? Es gibt auch einen Wandel, der mit Erstarrung, mit Versteinerung endet.

»Vieles ist doch nur Mode«, sagen beschwichtigend diejenigen, die nichts dabei finden, wenn diskutieren und debattieren wie im Englischen fast nur noch ohne das dazugehörige Verhältniswort »über« gebraucht werden, wenn »einmal mehr« (once more) sich allmählich im Deutschen durchsetzt oder der englische Superlativ mit »meist« und »best« (das meistdekorierte Orchester, der bestgekleidete Mann) die Sprache beherrscht. Moden kommen und gehen, gewiß, aber manche Mode erweist sich auch als dauerhaft. Das »Wissen um« werden wir wohl nicht mehr loswerden; »das macht Sinn« ist vermutlich auch nicht mehr »vom Tisch« zu kriegen, ebensowenig wie die Flugplatzvokabel »im Vorfeld«, das immer wieder falsch gebrauchte »vor Ort« aus der Bergwerkssprache, der »Höhenflug« (des Dollars vor kurzem), die »Durststrecke« oder Ordinäres aus der Umgangssprache wie die »geplatzte« Gerichtsverhandlung.

»Ich denke« (I think), so etwa wird nun ein Verfechter der Theorie von der »lebendigen Sprache« vielleicht in dem von ihm bevorzugten Neudeutsch antworten, »wir sollten solch altmodischer Sprach-Nörgelei eine eindeutige Absage erteilen.« Also dann: Es lebe die lebendige Sprache!

Soweit ©Klaus Natorp und die FAZ.

Und was meint der Duden dazu?
Euphorie :: Zustand gesteigerten Hochgefühls
Kontrahent :: Vertragsparter (von »Kontrakt«); Gegner (im Streit)
Alternative :: Entscheidung zwischen zwei (oder mehr) Möglichkeiten; die andere, zweite Möglichkeit
rasant :: umgangssprachlich für sehr schnell; schnittig; schwungvoll; begeisternd; in der Ballistik: sehr flach.

Zum ›Tip‹ Wörterliste
Zurück zur Übersicht
Zurück in die Heimat (home)
Fritz@Joern.Dewww.Joern.De – ©Fritz Jörn MIM