Soldatenfriedhof Reifferscheid

Am Soldatenfriedhof Reifferscheid liegt mein Vater begraben. Der Friedhof mit 1162 Toten ist eine Hügelkuppe in der westlichen Eifel, ein runder Hain von Föhren, darunter in Reih’ und Glied grob-steinerne Kreuze mit je zwei Namen oder stehende Grabplatten.

Neben den Soldaten, die einmal in allen Teilen Deutschlands, viele auch in Österreich zu Hause waren, liegen hier Männer, die noch zu Ende des Krieges als Minensucher verunglückt sind. Vielen der bei den letzten Kämpfen an der Westgrenze Deutschlands Gefallenen hatten ihre Kameraden während der fast pausenlosen Kämpfe nur hastig bereitete Grabstätten geben können, viele wurden mit ihrer Kampfgruppe in einem gemeinsamen Grab bestattet, und oft war nicht einmal mehr die Zeit, die Gräber mit Namen zu bezeichnen. Mehr als 200 blieben namenlos. Soweit es möglich war, sind die Toten einzeln gebettet. In einem besonderen Feld liegen die Gräber der Toten, die aus Gemeinschaftsgräbern im Kampfgebiet nicht mehr einzeln geborgen werden konnten und hier zusammen mit ihren Gefährten wieder in Kameradengräbern bestattet wurden.

   Der Name meines Vaters (18.6.1911-16.12.1944) steht mit auf einer großen Platte, Sammelgrab Q: »Matthias Arens 1908, Hans-Joachim Behlau 1926, Hellmut Benk 1925, Karl Gebhardt 1924, Friedrich Jörn 1911, Michael Jutschewski 1921, Karl Mühlberger 1907, Fritz Kunath 1916, Willy Seifert 1907, Walter Svoboda 1926, gefallen 1944-45.« Der grobe Stein und die verwitternde Schrift machen Namen und Zahlen nur schwer lesbar – nicht so schnell wie hier.
   Die Unbekannten Toten sind auf den Doppelgräbern als »Unbekannter Soldat« und auf den Gruppengräbern als »8 Unbekannte« oder »11 Unbekannte« aufgeführt.
   Der Rasen um die Gräber ist frisch mit der Maschine geschnitten. Vereinzelte Gräber sind geschmückt mit alten Gestecken, Dauerkränzen, Plastikblumen.
   An einem Grab hängt an einer rostenden Kette mühsam festgemacht hinter Glas das Schwarzweiß-Photo eines Jungen, milchgesichtig, und handschriftlich dazu: »In ewigem Leid Mama.« Helmut Egger aus Wien, 1925-1944.
   Ein Zweiergrab ist mir aufgefallen: Peter Koenn 1927-1945, Johanna Koenn 1930-1945. Im großen Buch in der Kapelle steht wenig mehr: Peter Koenn 8.6.1927- 5.5.1945, Johanna Koenn 29.4.1930-5.1.1945. Was Johanna, fünfzehnjährig, wohl im Winter 1944 unter all den Soldaten gemacht hat? Und ihr großer Bruder?
   Jetzt ist früher Sommer 1989, Samstag 20. Mai.
   In der Eifel sind tausende Ausflügler aus Aachen, Köln, dem Ruhrgebiet; Motorradfahrer, die Kurven üben, Angler, Picknick, Polizeikontrollen. Am Friedhof und weit herum kein Mensch. Durch das Halbdunkel des Föhrenhains sah ich hinaus auf die weiten Hügel und hatte für einen Moment das Gefühl, still oben auf einem Raumschiff zu stehen. Unter mir entfernt sich die Welt.
   Dann ärgere ich mich wieder real über gewisse Reden zum Frieden. Wie Floskeln klingt’s mir, wenn allzu leicht gesagt wird: »Damit sich das nie wieder wiederholt«. Starke Worte wie »Holocaust«, »Nazi-Terror« höre ich, wie von einer Platte abgespielt. Und denke: »Nein, es wiederholt sich nichts. Personen, Schicksale; Fehler, Leben und Geschichte sind immer wieder neu, allein, einzigartig.« Und ich verstehe nicht die Zeit damals, 1944-45 in der Eifel. Könnte ich je verhindern, was ich nicht kenne? Verurteilen, was ich nicht verstehe?
   Warum konnten sie 1944 nicht aufhören? Das hätte mir schon gereicht. Wie wäre mein Leben mit meinem Vater gewesen? Deutschland mit Überlebenden, die berichten könnten, dürfen? Ich kenne nur Geschichten von Fluchten aus Russland, den letzten Flugeinsätzen in umzingelte Städte damals, halbes Heldentum, unendliche Mühsal. Oder von uns Heutigen höre ich: bloße Anklage.
   Als ich fünf war, muss man mir erzählt haben, was es heißt, mein Vater sei gefallen. Vielleicht hab’ ich als Kind »gefallen« genauso naiv verstanden wie die Kinder heute wieder. Darum hat man mir erzählt vom Fadenkreuz im Zielfernrohr, und dass mein Vater, in die Stirn getroffen, gleich tot war. Ich erinnere mich noch genau.
   Alles Lüge.

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Der Artikel ist redigiert erschienen zum 1. 11. 1990 in »danke für Ihre Hilfe«, Heft 4, Nov. 1990, 9. Jahrgang, herausgegeben vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Geschrieben 18. Juli 1989 © Fritz Jörn. Foto Jörn, 1.11.2000

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Zu Allerheiligen 2010 habe ich hier den Text sanft auf neue Rechtschreibung gebracht und eine Fotogalerie mit Hinweisen und Bildern zusammengestellt.

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Der zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939, 5.45 Uhr, und endete am 2. September 1945, 9.25 Uhr. Er dauerte sechs Jahre und einen Tag. Durch den Krieg verloren 55 Millionen ihr Leben, als Soldaten, Flüchtlinge, Vertriebene, Opfer der Gewaltherrschaft und des Luftkrieges: 20 Mio. Russen, 4 Mio. Deutsche, 4,5 Mio. Polen, 1,7 Mio. Jugoslawen, 1,8 Mio. Japaner, 259000 Amerikaner, 386000 Engländer.
   Nach 1939 wurden viele Deutsche aus Rumänien, Jugoslawien, Polen, Russland, dem Baltikum sowie aus Südtirol in das Reich umgesiedelt. Seit 1944 kamen riesige Flüchtlingsströme aus Ost- und Südosteuropa nach dem Westen. Die Verfolgung durch Russen, Polen und Tschechen forderte mehr als 2 Mio. Tote. Auf Grund des Potsdamer Abkommens wurden weitere 13 Mio. aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße vertrieben. – Aus dem Lexikon.

Blogeintrag Nov. 2016
Fotogalerie aus dem Jahr 2010 mit Hinweisen und Bildern
»Hast du auch Knechte, Tod?« – Gedicht von Georg Britting
Fritz@Joern.Dewww.Joern.De – ©Fritz Jörn MMX rev. 2. 11. 10
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