Über die Leere im Raum (und uns in ihm)

Liebe Birte,
   ’s ist fünf Uhr früh am Dienstag, den 21. Oktober 1997. Ich konnte nicht so gut schlafen und hab’ über die Leere im Raum nachgedacht. Und dann hab’ ich meine Lexika durchsucht und herausgefunden, dass unsere Welt sowohl im Kleinen als auch im Großen wirklich leer ist.

Fangen wir mit dem Kleinen an. Das ist schwieriger, weil man’s nicht sehen kann, und weil es dank Atomphysik eigentlich so nicht ist: Atome lassen sich nicht wie feste Gegenstände mechanisch ansehen. Sie sind genauso gut Wellen. Das aber beachten wir hier nicht.
   Wenn du dir einen Edelstein vorstellst, oder vielleicht einen weißen Kristall, so wie man den gern in Drusen findet und auf das Fensterbrett stellt: So ein Kristall ist vielleicht ein Zentimeter groß, nicht wahr? Dieser Kristall besteht aus regelmäßig angeordneten Molekülen, die sind etwa 10-5 cm groß, ein zehntausendstel Millimeter. Die Atome, aus denen wiederum die Moleküle bestehen, haben eine Hülle aus Elektronen, die den »Atomkern« im Abstand von 10-8 cm »umfliegen«. Die Atomkerne selbst sind 10-12 cm dick und enthalten übrigens 99,9 Prozent der Masse der Atome. Darunter gibt es noch kleinere »Teilchen«, die Quarks und Leptonen, die sind 10-16 cm »groß«. Dazwischen ist, wie wir sehen werden, nichts, nur elektrische und andere »Felder«!
   Das wird Dir so nichts sagen. Ich habe mir aber einmal vorgestellt, der Atomkern sei groß wie ein Apfel. Das ist mein Vergleich, meine Analogie. Ein Apfel ist bekanntlich zentimetergroß, also irgend etwas mal 10±0 cm. Meine Analogie »Apfel als Atomkern« ist also gegenüber der Wirklichkeit 1012-mal vergrößert, der Apfel 1012 = 1.000.000.000.000 oder eine Billion Mal größer als der Atomkern. Jetzt kann man sich’s vorstellen.
   Und jetzt können wir vergleichen: Die Teile des Atoms (Protonen und Neutronen, die hab’ ich noch nicht genannt) sind 10-13 cm groß, eine volle Größenordnung kleiner als der Atomkern (10-12), das heißt zehnmal kleiner als die Atomkerne, in der Analogie also so groß wie die millimetergroßen Kerne im Apfel. Jetzt wirst du sagen: Soviel Leere ist da doch nicht dazwischen, wenn man nur das ganze Fleisch vom Apfel weglässt. Aber schon die Miniteilchen des Atomkerns, die Quarks und Leptonen, sind mit 10-16 cm um vier Stellen kleiner als der Atomkern, also im Vergleich zum zentimetergroßen Apfel in der Größe von nur ein paar Tausendstel Millimeter.
   Gehen wir hinaus aus dem Atom zum Molekül. Ein Molekül, das sind zwei oder mehr Atome zusammen, und die lassen sich chemisch auseinander bekommen. (Atome dagegen lösen sich nicht so leicht auf, die muss man schon wild mit Elektronen beschießen, damit sie sich spalten – außer sie sind radioaktiv, dann zerfallen sie immerzu von selbst.) Ein Molekül ist so 10-5 cm groß, ganz grob, also im Vergleich zum Apfel-Atom 10-5+12=7 (wir haben ja um 1012 vergrößert) = 107 cm groß, das sind 105 Meter, 100.000 m oder 100 km. In einem Raum von hundert Kilometern ein paar Äpfel! Es dürfen, bei organischen Molekülen, wie sie in lebendigen Dingen vorkommen, auch ein paar Äpfel mehr sein ... Trotzdem: nichts als Leere.
   Kommen wir erst gar zum in der Wirklichkeit zentimetergroß angenommenen Kristall. Das wäre bei apfelgroßen Atomen jetzt 1012 cm groß, also 1012-2-6=4 Kilometer, 10.000 Kilometer, fast so dick wie von hier bis China quer durch die Erdkugel. Ein Siegelring mit einem schönen, zentimetergroßen Stein wäre als Weltkugel zu tragen ...
   Ich höre auf mit den groß gerechneten Atomen. du siehst, da stecken immer nur ganz kleine Dinge drin. Und die sind ganz weit auseinander! Dazwischen: nichts.
   Hast du dich an das Rechnen mit Größenordnungen gewöhnt? Es geht hier nicht darum, ob ein Apfel vier oder acht Zentimeter im Durchmesser misst, es geht nicht um den Faktor zwei oder überhaupt um Faktoren, um Multiplikationen, es geht um Größenordnungen, um Potenzieren. Da ist nur die Frage, ob der Apfel zentimeter-, dezimeter- oder metergroß ist, 10-2, 10-1 oder 10±0 m. Wir rechnen hier nun im ganz Groben und Großen ...

Kommen wir zur Leere im Großen: zur Welt im Weltraum. Auch hier, wirst du sehen, Leere. Über den Erddurchmesser hab’ ich schon geschrieben: 12.756 km. Sehen wir uns den Mond an: Er misst nur 3.500 km im Durchmesser, ein Drittel, ein Viertel so groß wie die Erde. Wie weit aber ist der Mond weg? 384.000 Kilometer – das sind 110 Monddurchmesser. Stell’ Dir vor: Über der Erde 110 leere Kreise und dann, an 111. Stelle, der volle Kreis, der Mond. Aber das ist noch nichts an Leere.
   Die Sonne ist 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Sie ist übrigens 1,4 Millionen Kilometer dick, riesig. Schon wieder gingen rund 110 Sonnendurchmesser in diese Entfernung oder 12.000 Erden. Übrigens bin ich ganz froh, dass das so weit ist, sonst wär’s hier zu heiß.
   Und wo, meinst du, ist die nächste Sonne, der nächste »Fixstern«? Der heißt Proxima Centauri; Proxima, wohl weil’s die nächste Sonne ist, und Centauri da im Sternbild des Kentaur. Entfernt von uns ist diese Proxima Centauri bloß 4,3 Lichtjahre. Weil aber Licht in einem Jahr genau 9,460528×1015 m weit läuft, rund zehn Milliarden Kilometer, so sind diese 4,3 Lichtjahre 40 Milliarden Kilometer, eine Vier mit zehn Nullen dahinter. Dazwischen wieder: nichts, oder nicht viel, jedenfalls nichts, was leuchtet.
   Du darfst Dir also den Weltraum nicht wie einen Wald vorstellen voller Bäume. Wäre die Sonne so dick wie ein Baum, sagen wir 80 cm, dann wäre der nächste Baum »Centauri« 23.000 Kilometer weit weg. Kein Wunder, daß man durch einen ordentlichen deutschen Mischwald nicht durchsehen kann, wenn er nicht gerade frisch durchforstet ist, dass die Astronomen aber die fernsten Sterne angucken können, ohne dass ihnen die näheren im Weg stehen.
   Weiter, zu den Galaxien, den Sternhaufen und Milchstraßen, will ich’s gar nicht treiben. Die Beispiele reichen schon, um dir zu zeigen, dass die Suche nach Planeten, ja nach Leben oder gar nach Menschen anderswo im Weltall leider ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Es ist ja nicht die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen.
   Rechne Dir doch auch einmal selbst eine Analogie aus: Die Stecknadel ist millimetergroß, der Heuhaufen metergroß, Differenz drei Zehnerpotenzen, drei Größenordnungen, 103, oder vielleicht vier, 104. Das Verhältnis von Erddurchmesser von 12.000 km bis zur nächsten möglichen »Erde« im Kentaur, 40 Milliarden Kilometer, ist 12×103 zu 40×109, also 106 oder eine Million. Eine dunkle Stecknadel in einem kilometergroßen Heuhaufen müsste man finden, sie dann auch noch sehen können, und dann darauf das bisschen Leben. Leider blendet die Proxima Centauri ein bisschen...
   Trotzdem meine ich, dass es da draußen im leeren Weltall viele Erden geben wird, unendlich viele, und mit Leben dazu. Warum sollte sich nicht ähnliches Leben anderswo auch entwickelt haben? – Na ja, vielleicht nicht ganz so ähnlich, nicht genauso wie hier, wo ein nachdenklicher Vater in Mailand am Flughafen sitzt und Dir das auf seinem Schoßrechner zusammenschreibt.
   Nur: Wissen werden wir’s nie. Und das tröstet mich. Der Mensch braucht nicht alles zu wissen, es reicht, wenn er darüber intelligent nachdenkt. Die Leere im Raum führt zur Ungewissheit in unserem Wissen, zu einem »Kann sein, kann aber auch nicht sein«. Gut so! Das gibt Bescheidenheit, das lehrt Denken statt immer gleich zu wissen. Und, wenn du willst, lässt es Platz für den Glauben an die göttliche Schöpfung, die (mindestens) Wirklichkeit gewordener Zufall ist. Wie unwahrscheinlich so eine Entwicklung ist, die die Erde und das Leben auf ihr genommen haben, wie irre »zufällig« und in welchen riesigen Zeiträumen das passiert ist, das wäre wieder eine weitere Geschichte, eine Geschichte nicht von weiten Räumen sondern von langen Zeiten...

Liebe Birte, du solltest das einmal Deinen Physiklehrer nachrechnen lassen, ob ich nicht in dem einen oder andern Fall einen Fehler drin habe. Vielleicht macht’s ihm (oder ihr) auch Spass.

P.S. Später einmal hab’ ich nachgerechnet, wie lange es bräuchte, bis man so schnell wie das Licht führe, selbst wenn das ginge. Die Geschwindigkeit hängt ja davon ab, wie lange man Gas gibt und wie stark. Bei der »Stärke« hab’ ich an 1 g gedacht, die »Erdbeschleunigung«, du würdest sagen, die Kraft, die einen runterzieht. Wenn’s dich in der Kurve genauso stark nach der Seite drückt wie nach unten in den Sitz, dann war das 1 g. 1 g ist hier bei uns 9,81 m/sec2. Also dann: Die Geschwindigkeit kommt von lang angewandter Beschleunigung. Sagen wir v zur Geschwindigkeit (in km/h oder m/sec) und b zur Beschleunigung (meist eben in m/sec2), dann ist v = b × t mit t der Zeit in sec (neuerdings nur s). Jedenfalls hab’ ich mir ausgerechnet, dass es so ein Jahr dauern würde, bis man bei einem Vortrieb von 1 g auf Lichtgeschwindigkeit wäre. Was sagt uns das? Nichts, denn das geht eh nicht...

Noch ein PS: Da gibt es ein Phänomen angewandter binärer Zahlen. Es sei hier nur angedeutet. Wenn du ein normales Blatt Papier – acht Hundertstel Millimeter dick – einmal faltest, so ist das Ergebnis 0,16 mm dick, richtig? Und beim nächsten, zweiten Falten schon 0,32 mm, 22 gleich vier Lagen. Mit jedem Falten verdoppelt sich die Zahl der Lagen.
   Nun ist der Abstand zum Mond 384400 km, das wären 4,8 Milliarden Blatt. Könnte man ein Blatt 42-mal falten, so wäre das Paket 242 × 0,00008 m dick, also 351843721 m oder rund 351844 km, reichte knapp bis zum Mond. Beim 43. Falten ist man dann schon weit über den Mond hinaus …

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Ursprünglich war das ein Brief aus Bernhausen nach Baden-Baden. © Fritz Jörn, März 2006
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PS: »Kosmologen gehen davon aus, dass 85 Prozent aller Materie im Universum aus bis anhin unbekannten Elementarteilchen bestehen, die kaum mit gewöhnlicher Materie in Wechselwirkung treten.« (NZZ-Artikel am 23.12.9 p28 »Anzeichen von dunkler Materie«